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13.05.2022

Kindesunterhalt: Gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes bei dessen widerrechtlicher Zurückhaltung in einem EU-Mitgliedstaat

Zu Bestimmung des auf einen Unterhaltsanspruch anwendbaren Rechts ist für den gewöhnlichen Aufenthalt des Berechtigten auf den Ort seines gewöhnlichen Lebensmittelpunkts abzustellen, und zwar insbesondere bei Kindern geringen Alters Wird der Berechtigte widerrechtlich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgehalten, kann sich grundsätzlich ungeachtet dessen sein gewöhnlicher Aufenthaltsort in diesen Staat verlagert haben. Dies stellt der Europäische Gerichtshof (EuGH) klar.

Zwei polnische Staatsangehörige hielten sich seit mindestens 2012 im Vereinigten Königreich auf und bekamen dort im Juni 2015 beziehungsweise Mai 2017 zwei Kinder. Beide Kinder haben sowohl die polnische als auch die britische Staatsangehörigkeit. 2017 reiste die Mutter nach Polen und nahm ihre Kinder mit. Dem Vater teilte sie mit, dass sie beabsichtige, mit den Kindern dauerhaft in Polen zu bleiben. Der Vater sprach sich dagegen aus.

Am 07.11.2018 verklagte die Mutter den Vater vor einem polnischen Gericht namens ihrer Kinder auf monatliche Unterhaltszahlungen. Die Zuständigkeit dieses Gerichts hat der Vater nicht gerügt. Er wurde verurteilt, jedem Kinder nach polnischem Recht monatlich Unterhalt zu zahlen. Der Vater legte gegen dieses Urteil vor dem Bezirksgericht Poznań (Polen) Berufung ein. Dieses hat am 24.05.2019 die Mutter angewiesen, bis spätestens 26.06.2019 die Kinder an den Vater zurückzugeben. Denn sie seien widerrechtlich in Polen zurückgehalten worden, und ihr gewöhnlicher Aufenthalt habe sich unmittelbar zuvor im Vereinigten Königreich befunden. Die Mutter kam dieser Weisung innerhalb der gesetzten Frist nicht nach.

Im Nachgang zu diesem Beschluss wirft das Bezirksgericht Poznań, das mit der Berufung des Vaters gegen seine Verurteilung zur monatlichen Kindesunterhaltszahlung befasst ist, die Frage auf, nach welchem Recht sich die in Rede stehende Unterhaltspflicht beurteilt. Nach dem Haager Protokoll ist für Unterhaltsansprüche das Recht des Staates zur Anwendung berufen, in dem der Berechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Das Bezirksgericht Poznań möchte daher vom EuGH wissen, ob ein Kind als Unterhaltsberechtigter, soweit es darum geht, nach welchem Recht sich sein Anspruch auf Unterhalt bestimmt, einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Staat begründen kann, in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, wenn ein Gericht seine Rückkehr in den Staat angeordnet hat, in dem es unmittelbar vor dem widerrechtlichen Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Während das Verfahren vor dem Gerichtshof anhängig war, hat das polnische Oberste Gericht den Beschluss vom 24.05.2019 teilweise aufgehoben.

Zu der Frage, welches Recht auf den Unterhaltsanspruch eines Kindes anwendbar ist, das von einem seiner Elternteile in das Gebiet eines Mitgliedstaats verbracht worden ist, stellt der EuGH fest, dass der Umstand, dass ein Gericht dieses Mitgliedstaats im Rahmen eines gesonderten Verfahrens die Rückkehr dieses Kindes in den Staat angeordnet hat, in dem es vor seinem Verbringen mit seinen Eltern seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, es noch nicht ausschließt, dass das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des genannten Mitgliedstaats begründen kann.

Bei der Auslegung des Begriffs "gewöhnlicher Aufenthalt" des Unterhaltsberechtigten prüft der Gerichtshof, ob nicht der Umstand, dass dieser Berechtigte widerrechtlich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgehalten wird, der Verlagerung seines gewöhnlichen Aufenthalts in diesen Mitgliedstaat entgegensteht. Für den Begriff "gewöhnlicher Aufenthalt" des Unterhaltsberechtigten finde sich im Haager Protokoll keine Definition. Dem Adjektiv "gewöhnlich" lasse sich entnehmen, dass der fragliche Aufenthalt einen hinreichenden Grad an Beständigkeit aufweisen muss, was vorübergehende oder gelegentliche Aufenthalte ausschließt.

Sodann betont der EuGH, dass grundsätzlich das Recht des Staates, in dem der Unterhaltsberechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, offenbar den engsten Bezug zu seiner Situation aufweist. Denn das Bestehen und die Höhe der Unterhaltspflicht müssten unter Berücksichtigung der rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen des sozialen Umfelds desjenigen Landes bestimmt werden, in dem der Berechtigte lebt und in dem er hauptsächlich seine Tätigkeiten ausübt. Folglich sei der gewöhnliche Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten dort zu verorten, wo dieser tatsächlich seinen Lebensmittelpunkt hat. Dabei seien das familiäre und soziale Umfeld des Unterhaltsberechtigten zu berücksichtigen, und zwar insbesondere bei Kindern geringen Alters. Das Kindeswohl müsse nämlich gebührend Berücksichtigung finden. Dies erfordere unter anderem, sich dessen zu vergewissern, dass das Kind im Hinblick auf das familiäre und soziale Umfeld, in dem es sein Leben verbringt, über ausreichende Mittel verfügt.

Der Gerichtshof erläutert, dass es sich bei der konkreten Feststellung, in welchem Staat der Unterhaltsberechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, um eine Tatsachenwürdigung handelt. Mithin sei es Sache des angerufenen nationalen Gerichts, den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Betroffenen zu bestimmen. Um das auf den beantragten Unterhalt anwendbare Recht im vorliegenden Fall zu ermitteln, habe das genannte Gericht bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthaltsortes des Unterhaltsberechtigten konkret auf denjenigen Zeitpunkt abzustellen, zu dem über die Klage auf Unterhalt zu entscheiden ist.

Wird der Berechtigte widerrechtlich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgehalten, liefe es nach Auffassung des EuGH dem zu berücksichtigenden Kindeswohl zuwider, wenn das Vorliegen einer gerichtlichen Entscheidung eines Mitgliedstaats, mit der die Widerrechtlichkeit des Verbringens oder Zurückhaltens eines Kindes festgestellt wird, es dem Grundsatz nach verhindert, dass von einem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausgegangen werden kann. Zudem stellt der Gerichtshof fest, dass sich in Ermangelung einer entsprechenden Regelung kein Grund erkennen lässt, weswegen das Haager Protokoll im Licht von oder in Anlehnung an Artikel 10 der Brüssel-IIa-Verordnung auszulegen sei. Nach der letztgenannten Vorschrift, die die elterliche Verantwortung betrifft, komme es entgegen dem Grundsatz zu keiner Verlagerung der gerichtlichen Zuständigkeit in den Mitgliedstaat, in dem das Kind seinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt infolge eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens gehabt hätte, und die Zuständigkeit verbleibe in dem Mitgliedstaat, in dem das Kind zuvor seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 12.05.2022, C-644/20