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23.11.2022

Corona-Pandemie: Bayerische strenge Ausgangsbeschränkungen in der «ersten Welle» waren unverhältnismäßig

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat erstmals über die Rechtmäßigkeit früherer Corona-Schutzverordnungen aus der Anfangszeit der Pandemie entschieden. Dabei hat es die strenge Ausgangssperre, die Bayern im März 2022 verhängt hatte, als unverhältnismäßig beanstandet.

Nach der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom März 2020 war das Verlassen der eigenen Wohnung nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt. Triftige Gründe waren insbesondere Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich allein oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) hatte auf einen Normenkontrollantrag von zwei Privatpersonen festgestellt, dass diese Regelungen unwirksam waren. Das BVerwG hat die Revision des Freistaats Bayern zurückgewiesen.

Der VGH hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Antragsgegner habe die triftigen Gründe, die zum Verlassen der eigenen Wohnung berechtigten, so eng gefasst, dass die Ausgangsbeschränkung im Ergebnis unverhältnismäßig gewesen sei. Von der Beschränkung sei auch das Verweilen im Freien allein oder ausschließlich mit Angehörigen des eigenen Hausstandes erfasst gewesen. Dass diese Maßnahme zur Hemmung der Übertragung des Coronavirus erforderlich und damit im Sinne des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) notwendig gewesen sei, sei auf der Grundlage des Vortrags des Antragsgegners nicht zu erkennen.

Diese Annahme des VGH sei mit Bundesrecht vereinbar, bestätigte das BVerwG. Erforderlich sei eine Maßnahme, wenn kein gleich wirksames, die Grundrechtsträger weniger belastendes Mittel zur Erreichung des Ziels zur Verfügung steht. Als mildere Maßnahme seien hier – wie der VGH zu Recht angenommen habe – Beschränkungen des Kontakts im öffentlichen und privaten Raum in Betracht, mit denen das Verweilen im Freien allein oder ausschließlich mit Angehörigen des eigenen Hausstandes nicht untersagt worden wäre. Sie hätten die Adressaten weniger belastet als die angegriffene Ausgangsbeschränkung. Diese erlaubte nach der bindenden Auslegung des Landesrechts durch den VGH zwar das Verlassen der Wohnung für Sport und Bewegung, aber nicht für bloßes Verweilen an der frischen Luft, zum Beispiel um auf einer Parkbank ein Buch zu lesen.

Bei der Beurteilung, ob die als milderes Mittel in Betracht kommende Kontaktbeschränkung weniger wirksam zur Zielerreichung war als die angegriffene Ausgangsbeschränkung, habe der Antragsgegner über einen tatsächlichen Einschätzungsspielraum verfügt, so das BVerwG weiter. Dieser habe sich darauf bezogen, die Wirkungen der Maßnahmen zu prognostizieren. Ein solcher Spielraum habe jedoch Grenzen. Das Ergebnis der Prognose müsse plausibel und damit einleuchtend begründet sein. Das unterliege der gerichtlichen Überprüfung. Der VGH habe angenommen, im Vortrag des Antragsgegners sei offengeblieben, warum ein Verhalten, welches für sich gesehen infektiologisch unbedeutend sei, nämlich das Verweilen allein oder mit den Personen seines Haushalts im Freien außerhalb der eigenen Wohnung, der Ausgangsbeschränkung unterworfen worden sei. Dass er ein solches Verweilen als infektiologisch unbedeutend eingestuft hat, sei eine Würdigung von Tatsachen, die der Antragsgegner nicht mit einer Verfahrensrüge angegriffen hat; gegen sie bestünden unabhängig davon aber auch revisionsrechtlich keine Bedenken, so das BVerwG.

Gleiches gelte für die Annahme des VGH, es sei nicht ersichtlich, dass sich in relevanter Anzahl um die Verweilenden Ansammlungen von Menschen bilden könnten. Er habe keine überzogenen Anforderungen an die Darlegung gestellt. Dass das Verlassen der Wohnung zum Verweilen an der frischen Luft – wie das Verlassen der Wohnung aus anderen Gründen – zu Kontakten führen kann, bedürfe als allgemeinkundige Tatsache zwar nicht der Darlegung. Das Verbot des Ausgangs für ein Verweilen im Freien ohne Kontakt zu hausstandsfremden Personen sei aber nur erforderlich gewesen, wenn es über ein Verbot solcher Kontakte hinaus geeignet war, einen relevanten Beitrag zur Verhinderung hausstandsübergreifender Kontakte zu leisten.

Zu berücksichtigen war hierbei laut BVerwG, dass das Ziel des Antragsgegners, physische Kontakte zu Menschen außerhalb des eigenen Hausstandes auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren auch durch die Ausgangsbeschränkung in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht vollständig zu erreichen war. Denn bei Vorliegen triftiger Gründe sei das Verlassen der eigenen Wohnung erlaubt gewesen und auch ein solches erlaubtes Verlassen der Wohnung habe zu Kontakten zu Menschen außerhalb des eigenen Hausstandes führen können.

Das ganztägig und damit auch während der Tagstunden geltende Verbot, die eigene Wohnung zum Verweilen im Freien zu verlassen, habe einen schweren Eingriff in die Grundrechte der Adressaten dargestellt. Für die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne hätte in der Tatsacheninstanz plausibel dargelegt werden müssen, dass es über eine Kontaktbeschränkung hinaus einen erheblichen Beitrag zur Erreichung des Ziels leisten konnte, physische Kontakte zu reduzieren und dadurch die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern. Auch daran habe es hier gefehlt, meint das BVerwG.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 22.11.2022, BVerwG 3 CN 2.21